Yair Lapid, Vorsitzender der Partei Jesch Atid, schrieb am Freitagmorgen offensichtlich bewegt von den Geschehnissen der blutigen Woche: “Wir sind im Krieg. Wer palästinensische Babys verbrennt, erklärt den Krieg gegen den Staat Israel. Wer junge Menschen bei der Pride Parade niedersticht, eine Kirche anzündet, und auch, wer mit der Zerstörung des Obersten Gerichtshofes droht, erklärt den Krieg gegen Israel.” Das dramatische Zitat aus der Jüdischen Allgemeinen postete ich in der Kommentar-Spalte des queeren Magazins Siegessäule, welches ein Interview mit einem Teilnehmer des Jerusalemer Prides veröffentlichte. Die Reaktion folgt prompt: “Was hat der von Ihnen zitierte Vorfall bitte mit der schlimmen Tat eines offenbar Geisteskranken in Jerusalem zu tun, außer Ihnen einen Vorwand für das Verbreiten von Stereotypen zu liefern?“, schreibt mir eine anonyme Person. Schnell gerät der Thread aus dem Ruder. Es hagelt Antisemitismus-Vorwürfe, ich werde sogar als “Nazi” betitelt, obwohl ich lediglich die Positionen von Shimon Peres, dem israelischen Ministerpräsidenten Netanyahau und der israelischen Armee wiedergebe. Zudem weise ich daraufhin, dass der Wiederholungstäter Yishai Schlissel ähnlich wie der Massenmörder Breivik nicht im pathologischen Sinne wahnsinnig oder krank, sondern ein krimineller Extremist sei. Der ultra-orthodoxe Jude war auch nicht wirklich ein “Einzeltäter“, vielmehr feuerte ihn am Tag der Messer-Attacke eine 30-köpfige, extremistische ultrarechte Fundi-Gruppe unweit der LGBT-Demo lauthals an: Die politischen Komplizen des 50-jährigen Messerstechers. Mehr noch: Vertreter von rechten und rechtsextremen Parteien schaffen mit ihrer Ideologie das Terrain für politisch motivierte Hassverbrechen gegen Homosexuelle, Palästinenser und liberale jüdische Aktivisten und Politiker. Ich bleibe also bei den Fakten, wähne mich auf der Seite Israels; pro Vielfalt, pro Demokratie, gegen “jüdischen Terror“, doch ernte dafür verunglimpfende, vorwurfsvolle Unterstellungen. Mittlerweile bestätigte auch die israelische Justiz: Der Täter ist weder “krank”, noch “irre” oder “wahnsinnig”, sondern ein verhandlungsfähiger krimineller, ultra-orthodox jüdisch motivierter, theo-faschistischer Terrorist.
Hasspropagandisten lassen keine Gelegenheit zur Hetze aus
Wo liegt also das wahre Problem? Mutmaßlich verkappte Antisemiten geben vor, sich darüber zu echauffieren, dass überhaupt berichtet worden ist, weil das dem Ansehen Israel schadete und Stimmung gegen Juden machte und deshalb “antisemitisch” sei. Dabei wurden beim CSD 2015 in Jerusalem, Juden zum Opfer der brutalen und feigen Messerattacke. Der lauteste Vorwurf kam ausgerechnet aus jener Ecke, wo stets keine Gelegenheit ausgelassen wird, gegen Muslime zu hetzen, oft anhand von Falschmeldungen und gezielt vorurteilsbereiten Unterstellungen. Dabei sprechen auch israelische Medien, jüdische Zeitungen in Deutschland und auch die israelische Armee bei Hassverbrechen dieser Sorte von “jüdischem Terror“. Umso erschütternder: Auch liberale Menschen lassen sich von Hasspropaganda manipulieren. Auch meine Person stellt diesbezüglich keine rühmliche Ausnahme dar. Jedoch verschweige oder ignoriere ich keine Gewaltverbrechen, egal, ob palästinensische oder israelische, christliche, jüdische, muslimische, hinduistische oder atheistische, links- oder rechtsextremistische Terroristen morden. Es scheint populär geworden zu sein, entlang der Frontverläufe der jeweils anderen Seite wahlweise entweder Verharmlosung oder Übertreibung vorzuwerfen. Doch nicht allein die Kommentarspalten sind voll davon: Aktuell reagiert auch der israelische, rechtskonservative Ministerpräsident auf einen Terroranschlag palästinensischer Krimineller mit diesem schlicht verlogenen Vorwurf: “Ich finde es seltsam, dass diejenigen, die den Terrorismus gegen Palästinenser schnell verurteilt haben, schweigen, wenn sich Terrorismus gegen Juden richtet.“
Bizarres Aufstacheln unterschiedlicher Menschengruppen beenden
Szenenwechsel, das problematische und komplexe Thema bleibt dasselbe: Der zuerst von der Deutsch-Türkischen-Zeitung aufgegriffene, vom Grünenpolitiker Volker Beck auf Facebook vorgebrachte Vorwurf der Unterkomplexität gegen seinen muslimischen Parteikollegen Eyüp Odabaşı könnte ich ebenfalls als Beispiel für eine Mischung aus verinnerlichtem Antisemitismus und “positiver Diskrimierung” zugleich interpretieren. Gewürzt mit einer bitteren Prise antimuslimischem Rassismus’? Dem verdienten Menschenrechtler Volker Beck traue ich das nicht zu. Bizarr ist das gegeneinander Aufstacheln von unterschiedlichen Menschengruppen aber allemal. Auch die DTZ-Redaktion mischt mit, indem sie einen harmlosen FB-Thread zu einem Skandal aufzuplustern versucht: >Anstatt seinen muslimischen Parteikollegen, der zur Toleranz aufruft, zu unterstützen, stellt Grünen-Politiker Volker Beck, vermutlich wegen der Herkunft und Religionszugehörigkeit seines Parteikollegen, einen irritierenden und unpassenden Vergleich zwischen dem «Demoverbot wegen Ramadan» in der Türkei und den «Messerattacken auf Homosexuelle» in Israel her, um daraus ein Lob für Netanjahu zu stricken und Kritik an der Türkei abzuleiten. «Und PM Netanyahu hat es unverzüglich verurteilt, anders als beim Istanbul Pride, wo die Gewalt von der Polizei ausging und das Verbot mit Ramadan begründet wurde», so Volker Becks überraschende Reaktion.< Auch ich greife das Thema am Donnerstag sogleich empört auf, stelle Beck auf meiner Facebook-Seite vorschnell in eine Reihe mit Leuten, die Menschengruppen aus Kalkül heraus gegeneinander aufzubringen gedenken.
Wo gespahnt wird, reifen Vorurteile zum blanken Hass
Doch Volker Beck wehrt sich auf Facebook energisch gegen meine Anschuldigung: >’Subtil vorgetragener Antisemitismus-Vorwurf’ ist einfach eine glatte Lüge. Ich fordere Dich hiermit auf, dass aus dem Artikel zu nehmen. Ich habe an keiner Stelle und in keiner Weise Eyüp Antisemitismus unterstellt. Dazu habe und hatte ich auch keinen Anlass.< Zudem belegt er mir gegenüber anhand eines weiteren Screenshots, dass nicht Beck, sondern Eyüp den Pride Istanbul als erstes heranzog. Andere FB-User attestieren “westlichen Medien” quasi auf dem Rücken von LGBT eine stets israelfreundliche, aber zugleich islamfeindliche Berichterstattung. Unter diesem Eindruck reagierte Beck mit dem treffenden Begriff “unterkomplex“. Sehr gut, ich bedanke mich für die Klarstellung. Jedoch greift es allenthalben wie wild um sich, dass Juden gegen Muslime und umgekehrt gegeneinander ausgespielt werden. Zwischen diesen ‘Hater-Fronten’ geraten häufig Lesben, Schwule und Trans*. Spahnen nannte es der liberale schwule Journalist Dirk Ludigs in einem Siegessäule-Kommentar, wenn Demagogen in rechtspopulistischer Manier, Keile zwischen unterschiedlichen Minoritäten oder Interessengruppen rammen. Benannt nach dem homophilen CDU-Politiker Jens Spahn, der Vorurteile gegen Muslime bedient, um sich als “Stimme des Unwohlseins” zu profilieren. Ein rechtspopulistischer, homophiler Blogger (Ex-Herausgeber einer erzkatholischen, der Pius-Bruderschaft wohlgesonnenen theologischen Streitschrift, publizistischer Gönner eines Holocaust-Verhöhners, FB-Kumpel eines verurteilen Holocaustleugners etc., siehe FB-Post vom 31.07. 2015, 17.14 Uhr) ) treibt diese Methodik auf die Spitze und unterstellte Ende Juli queeren Medien, Gruppen und Einzelpersonen Antisemitismus, weil das queere Nachrichten-Portal Queer.de aktuell und ausführlich über die Amok-Attacke auf die CSD-Teilnehmer in Jerusalem berichtet. Doch Vorsicht: Wo gespahnt wird, reifen Vorurteile zum blanken Hass.
Bedingungslose Israel-Solidarität vorgaukeln, um hemmungslos zu hetzen
Dieser von den ‘Flüchtlingskritikern’ der Berliner Jungen Union über die PI.News-Hassblogger bis zu den rechtsradikalen Islamhassern der Partei ‘Die Freiheit‘ getragene scheinheilige Paternalismus ist gleichwohl übelster Chauvinismus: Wer Kritik an das Gebaren von ultra-orthodoxen, gewaltbereiten, homophoben Juden als antisemitisch verunglimpft, hilft dem demokratischen Staat Israel nicht, sondern macht sich mit den Feinden des modernen, demokratischen Staates Israel gemein, wo sich bereits Muslime und Juden die israelische Staatsbürgerschaft teilen und zusammen leben. Einer besonders perfiden Methode bedienen sich indes jene, die rechtsreaktionäre bis faschistoide Hardliner unter Welpenschutz stellen, weil sie schließlich jüdisch seien. Sogar NPD-nahe Protagonisten stilisieren sich selbst – strategisch nicht unklug – als Antisemitismus-Gegner, indem sie bedingungslose Israel-Solidarität vorgaukeln. Eine Alibifunktion, um hemmungslos der Hetze gegen andere religiöse oder sexuelle Minderheiten im eigenen Land zu frönen. “Desert Nigger” werden derweil Palästinenser und Araber von selbsternannten, sogenannten “Israelfreunden” geschimpft. Solidarität im humanistischen Sinne, eine dem Menschenrecht gezollte Solidarität geht nun wirklich völlig anders.
Die Spirale aus Hass und Gewalt stoppen
Antisemitismus ist keinesfalls eine Chimäre, sondern Realität, Antisemitismus in all seinen Ausprägungen muss bekämpft werden. Doch der Kampf gegen Antisemiten ist nicht an der Seite von Rassisten zu gewinnen. Ja, und es ist eine Form der positiven Diskriminierung, “jüdischen Terror” oder “jüdisch motivierte Hassverbrechen” nicht zu benennen. Es ist sogar ein Merkmal verinnerlichtem Antisemitismus, anderen zu unterstellen, sie wollten lediglich antisemitische Stereotypen verbreiten, wenn sie auf die Gefahren aufmerksam machen, die von ultra-orthodoxen Fanatikern und rechtsradikalen “jüdischen Siedlern” ausgehen. Genauso wie folgender Satz, den ich tatsächlich bereits mit eigenen Ohren in der Schwulenszene vernahm, puren Rassismus offenbart: “Ich habe nichts gegen Schwarze, die tanzen und singen so schön.” Nicht minder boshaft ist es indes, das schmutzige Spiel mit umgekehrten Vorzeichen zu treiben: Rassismus und Homophobie auf Seiten von jüdischen Reaktionären mit antisemitischen Parolen zu erwidern und den eigenen Homo-Hass relativierend zu rechtfertigen. Die einen verherrlichen folternde und mordende Hamas-Terroristen und ihre korrupten Anführer, die anderen weisen jegliche Kritik von Menschenrechtler am israelischen Militarismus und an Kriegsverbrechen als antisemitisch ab. Das muss aufhören, wenn die Spirale aus Hass und Gewalt ein Ende finden soll.
Macht euch mal bitte frei – allesamt! Auch ich werde versuchen, mich nicht provozieren und zum vorschnellen Poltern hinreißen zu lassen. Dem lieben Frieden willen. „Der Friede wird kommen, doch es braucht Mut, man kann Freundschaft schließen“, sagt ein optimistischer, jüdischer Friedensaktivist aus Israel in Susya in einem ARD-Videoblog und lächelt. Ich glaube ihm und hoffe, dass sich liberale Politiker in Israel mit ihren neuesten Forderungen zur Stärkung der säkular orientierten Zivilgesellschaft durchsetzen.
P.S. Ein gewisser Arne List brachte die Grundproblematik in einem Facebook-Thread der Frankfurter Rundschau zum Thema “Querfront” analytisch korrekt auf den Punkt – ich zitiere: >Im Fall der Iran-Querfront (und Putin-Querfront) ist es eine Strategie der Neuen Rechten, linke Systemkritik für sich zu vereinnahmen, sei es in Thematik, Rhetorik und Symbolik, oder auch in realen Akteuren auf der Linken, welche z.B. glauben, eine neue Bewegung vor sich zu haben, die man von den Nazis nur abtrennen müsse, oder aber die Nazis gar nicht erst sehen wollen.
Im Fall der Israel-Querfront ist es der Versuch der Neuen Rechten, sich gegen den Antismitismusvorwurf zu immunisieren, indem man die Islamfeindlichkeit für sich zu Nutzen macht, dem Antisemitismus eine philosemitische Wendung zu geben. Linke können hier andocken in einer verkürzten Antisemitismuskritik, die die Prämissen des Antisemitismus für voll nimmt.
Allerdings ist es nicht so, dass die Akteure isoliert vom Mainstream seien. Dazu sind Todenhöfer und Broder zu oft im Fernsehen, und wenn man sich anschaut, was in unseren Buchhandlungen als Top-Ten-Bestseller geführt wird, so ist ein Drittel davon diesem Spektrum zuzuordnen.<
Die “Querfront”-Anhänger sind nicht mehr für den Dialog erreichbar, sagt der Sozialwissenschaftler Wolfgang Storz. Sein…
Posted by Frankfurter Rundschau on Sonntag, 16. August 2015
Homophobia in JerusalemWATCH: What happens when a gay couple walks down a Jerusalem street?http://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-4689016,00.html
Posted by Ynetnews on Sonntag, 9. August 2015