Die Zahnfee trägt Korsage, Spiderman einen bauchfreien Dress und Fidel Castro küsst Captain America. Das ist keine Szene aus einem Cartoon, sondern Realität in Philadelphias Schwulenclub T.O.C. Schrill kostümiert feiern die Gäste in der Hauptstadt Pennsylvanias ihr unheiliges Halloween. Tags darauf erzählt Tami Sortman beim Brunch im Restaurant Knock von der schaurig-lustigen Geisternacht. Auch die blonde Lesbe zieht alljährlich mit ihrer Clique durch das „Gayborhood“ der Millionenmetropole.
Liberale USA: Fidel Castro mag Captain America an Halloween in Philly
Muskel bepackte Leder-Rocker und barbusige Hexen
Zwar schließen die Clubs in Pennsylvania wie an der gesamten Ostküste der USA relativ früh, doch in der Halloween-Nacht geht es auch auf den Straßen wild her. Offene Anmache, frivole Rufe, barbusige Hexen und Muskel bepackte Leder-Rocker zieht es nach den öffentlichen Partys auf die privaten Feten. „Bei uns herrschte Womens only“, lacht Tami, die für die „Philadelphia Gay News“ arbeitet, ehernamtlich aktiv in der Community engagiert und maßgeblich an der Erstellung der „Gay-History-Map“ beteiligt ist. Als „Philly-Girl“ ist sie stolz auf ihre liberale Heimatstadt: „In den Sechziger Jahren übernahmen wir die Vorreiterrolle für die moderne Lesben- und Schwulenbewegung Amerikas“, sagt sie, zeigt auf ihrer Karte die Stätten des queeren Aufbegehrens.
Der schwule Baron von Steuben
Ohnehin ist Philadelphia geschichtsträchtig: Die vielfach fotografierte Freiheitsglocke, ein nationales Heiligtum, wird von sexy uniformierten „Parc-Rangern“ bewacht, das Wohnhaus von Betsy Ross, der Erfinderin der US-Flagge, steht in der Altstadt und vor den Stadttoren zog einst die erste amerikanische Armee unter Obhut des schwulen Baron von Steuben gegen die Briten für die Unabhängigkeit der USA in den Krieg.
LGBT-Bürgerrechte: Historischer Moment auf einem „Mural”
Einen Kampf für mehr Gender-Gerechtigkeit findet Jahrhunderte später am 4. Juli 1965 statt. Im Petticoat die Frauen, brav mit Hemd und Stoffhose bekleidet die jungen Männer, marschieren die Teilnehmer der ersten Queer-Demo mit Transparenten vor der „Independence Hall“ auf – dem US-amerikanischen Nationalheiligtum. Festgehalten ist der historische Moment auf einem „Mural“ in der Spruce Street.
“Wofür es sich zu kämpfen lohnt – für die Freiheit“
Die städtisch geförderten großen Wandgemälde sind das Metier der Künstlerin Tjai Abdullah. Als Mural-Guide führt sie Touristen besonders gern durch das Gayborhood: „Die Mural-Tour zeigt die wichtigsten Ereignisse der Stadt. Für mich, eine nicht straighte schwarze Frau, bedeutet die Akzeptanz Philadelphias sehr viel.“ Das liberale Selbstverständnis ist sichtbar. Auch an den Regenbogenmarkierungen der Straßenschilder im gesamten Viertel, das sich von der Chancellor- und Pinestreet hinüber zur 13. und 11. Straße bis zum Washington Platz ausdehnt. Mittendrin hegt und pflegt Direktor Bob Skiba das Archiv des William Way Center’s: „Es ist wichtig, dass wir folgenden Generationen mitteilen, wofür es sich zu kämpfen lohnt – für die Freiheit“, tönt Bob sehr amerikanisch.
Tagtäglich beschäftigt mit süßen Verlockungen
„Zum amerikanischen Lebensgefühl gehört auch gutes Essen“, meint indes Eric Matzke. Der Miteigner des schwul geführten Unternehmens „Cityfoodtours“ kennt die Vorurteile europäischer Besucher: „Bio, Slow-Food und Nachhaltigkeit sind jedoch ein großes Thema“, klärt er charmant auf und lässt im Edel-Shop „Tbar“ eine Schokoladen-Pastille in seinem Mund verschwinden. Dass Eric tagtäglich mit gutem Essen und Verlockungen beschäftigt ist, sieht man dem Gertenschlanken nicht an. Nachts ist auch Eric im T.O.C. zugegen, trägt eine Toga, präsentiert seinen trainierten Körper, lächelt verschmilzt, stupst Fidel in die Seite, kneift der Zahnfee in den Po und langt Captain America frech in den Schritt. Schließlich ist Halloween. Zeit für Libido und Liberty.
Skyline von Philadelphia mit viel Stadtgrün im Vordergrund