Nebelschwaden schleichen von der Themse herüber wabernd durch schmale Gassen, graue Häuserschluchten werden von der Dämmerung heimgesucht und das Einzige, was glänzt, sind die nassen, vom Nieselregen benetzten Regenmäntel düsterer Gestalten. Das Image Londons glich über Jahrzehnte hinweg diesem Gothic-Klischee.
Der menschenfreundliche Schlagloch-Gärtner von London begrünt Hackney
„Aber Zeiten ändern sich“, sagt Steve Wheen im Osten Londons, nimmt einen Haufen Blumenerde und füllt damit einen breiten Spalt im Kopfsteinpflaster einer Seitengasse der Voss Street auf. Steve ist der über die britische Insel bekannt gewordener „Pothole-Gardener“. Die Blumenerde dient als Substrat für eines seiner Miniatur-Gärten, die er in Schlaglöchern pflanzt. Es ist sein persönlicher Beitrag, Londons Stadtbezirk Hackney schöner zu gestalten. Mit Bedacht pflanzt er die Samtblumen in eine Reihe. Abseits der Hauptstraße bildet sich schnell eine Gruppe von Schaulustigen: Ein augenscheinlich schwules Pärchen, eine unbekümmert auf offener Straße stillende Mutti und ein bärtiger Mann, gekleidet in einem orientalischen Kaftan – alle gemeinsam lächeln. „Ich möchte die Menschen mit kleinen Momenten des Glücklichseins beschenken“, sagt Steve und schmückt seinen Minigarten mit Kieselsteinen aus. Die Zuschauer sind entzückt. Hauptberuflich arbeitet Steve in der Kreativ-Abteilung des Weltkonzerns Google und sein Bilder-Band „Der City-Gärtner – Minigärten im Schlagloch “ ist auch in deutscher Sprache veröffentlicht worden. Mit diesem Profil gehört der gebürtige Australier zur neuen Gruppe von Hackney-Locals, die sich unweit der Voss Street am Wochenende auf dem Blumenmarkt der Columbia Road einfinden: Der typische Kunststudent mit schwarzer Hornbrille oder eine laute Lesben-Clique in Lederjacken gewandt.
Auf der Ezra Street trinken Hippies und Hipster fair gehandelten Kaffee
Auch Londoner, denen die Portobello-Road in Nottinghill längst zu touristisch geworden ist, mischen sich unter muslimischen Frauen mit Kopftuch, drängen sich sonntags durch das Bio-Blumen-Meer und stauen sich vor Marktständen. Abseits des Gewusels trinken sie auf der Ezra Street einen fair gehandelten Kaffee im populären „Jones Dairy“ und lauschen den rockigen Straßenkünstlern vor Backsteinhaus-Kulisse. Hackney hat sich gewandelt, vom Problem-Bezirk zum angesagten Trend-Quartier. Steve mag sein Viertel: „Die Leute gehen sehr respektvoll mit meinen Kunstwerken um.“ Manch Anwohner kümmerte sich den ganzen Sommer um seine blumigen Arbeiten vor ihrer Haustür: „Sie gießen und nehmen in meinem Sinne kleine Renovierungen vor, wenn das Wetter oder der Verkehr Schaden anrichten“, berichtet der mittelblonde Straßenkünstler beim Spaziergang entlang der Hackney Road.
Kunst mit Respekt begegnen in Hackney: Pilze sprießen vom Dach
Bunte Schaumstoff-Pilze des Hippie-Künstlers Christiaan Nagel sprießen auf Dachvorsprüngen hervor, neue Mode-Boutiquen und schick aufgemachte Obst- und Gemüseläden säumen die zentrale Straße des aufstrebenden Bezirks. Ein Viertel wird schöner und es sind die Künstler, die urbanen Gärtner und progressive Mitglieder der lesbisch-schwulen Szene, die im ehemals als gefährlich geltenden East London Pionierarbeit geleistet haben. Östlich der überlaufenden Touristen-Magnete wie Soho und London-Bridge sind die Mieten für Wohn- und Arbeitsraum noch relativ preiswert. Für die olympischen Sommerspiele 2012 wurden neue U-Bahn- und Buslinien errichtet. Das wird bei alt eingesessen Bewohnern als Brandbeschleuniger der rasanten Gentrifizierung gescholten aber gleichermaßen gelobt. Steve sieht die Entwicklung hin zu mehr Freundlichkeit zweigeteilt: „Meine Arbeit wird durch das hohe Interesse an Hackney noch mehr beachtet, aber wenn sich immer mehr schicke Cafés ansiedeln, teure Lofts von trendy Kreativen bewohnt werden, leidet schon bald die Subkultur an den steigenden Mieten.“ Bislang hat Hackney seinen rauen Charme nicht gänzlich eingebüßt.
Keine Fotos, schnauzt der Sprayer auf der Scrutton-Street
An der Scrutton Street trifft der schwule Künstler auf Probs. Der Steetartist balanciert auf seinem wackeligen Gerüst und sprayt was seine Farbdosen hergeben. Düstere, aggressive Energie strahlt sein Wandgemälde aus. „Keine Fotos“, motzt er von der Leiter herunter. Steve grüßt nett und beruhigt seinen deutschen Begleiter: „Kein Problem, das ist ein alter Reflex aus Zeiten, als Graffiti hier noch unter Strafe stand.“ Heute haben auch Londons Politiker erkannt, dass Kunst einen Wert besitzt. „Mittlerweile werden die Künstler sogar von Galerien mit Unsummen geködert, verlassen die Straßen und malen stattdessen auf Leinwand. Denn eine Mauer oder ein Eisentor lassen sich nicht an Sammler verkaufen“, klärt Steve auf. Viele passten sich dem Zeitgeist an und sprayten wie Bansky eigentlich nur noch aus Marketinggründen.
Freundlicher: Zur Gentrifizierung gesellen sich Akzeptanz und Vielfalt
Positiv bewertet Wheen im Olympiajahr 2012, dass das soziale Klima wärmer geworden sei als die feucht-kühlen Spätherbst-Tage der englischen Hauptstadt: „Die Kommerzialisierung der urbanen Subkultur hat es möglich gemacht, dass queere Pärchen entlang des Regent Kanals Händchen haltend durch Hackney schlendern können.“ Dort wo sich Agenturen, Galerien und Trend-Gastronomie ansiedelten, stiege auch der Bildungsstand an: „Dem folgt die Akzeptanz von Vielfalt“, meint Steve, der es ein bisschen bedauert, immer noch Single zu sein. „Ich kann ja nicht einfach fremde Männer auf der Straße küssen, um schwul-politische Zeichen zu setzen.“ Aber das Single-Leben genießt der kreative Steve dennoch.
Queer in Shoreditch: „Der Osten Londons ist nicht nur im Sommer bunt“
In Hackneys bislang homophilsten Ortsteil Shoreditch hat sich seit den Neunzigern längst eine bunte Reihe unterschiedlichster Clubs und Pubs etabliert, die allerdings – damals brandaktuell – im Mai 2012 mit Verve gegen seitens der Stadtpolitik geplante, neue Sperrstunden-Verordnungen protestieren. Steves Lieblingslokal ist jedoch kein Nachtlokal. Im „The Cat & Mutton“, goutiert er gesittet ein typisch britisches „Sunday Roast“, geschmortes Fleisch mit Beilagen, anschließend schlendert er die Redchurch Road mit seinen vielen Läden und Cafès entlang oder kehrt an ungemütlich kühlen Abenden ins nostalgische Ambiente vom „The OWL and Pussycat“ ein. Das tun auch die Modestudenten des nicht weit entfernten Fashion-Colleges. „Der Osten Londons ist nicht nur im Sommer bunt“, weiß Steve: „Ich spüre es im Alltag, dass die Leute glücklicher geworden sind. Was hier gedeiht hat Zukunft und ist Krisen- und Klimafest wie Nagels farbenfrohe Pilze.“